Mit Enteignungen gegen die Wohnungsnot? Land winkt ab
Niedersachsens Bauminister Lies (SPD): Es gibt bessere Mittel gegen Spekulation und Wucher / Demonstrationen in ganz Deutschland
Von Gordon Repinski und Michael B. Berger
Hannover. Familien finden keine Wohnungen, Ältere haben Angst, die Miete nicht mehr zahlen zu können – die Wut über stark steigende Mieten hat am Sonnabend Zehntausende Menschen in deutschen Städten auf die Straße getrieben. In Berlin, wo das Problem wie in vielen Großstädten besonders dramatisch ist, begann zugleich ein bislang einmaliges Volksbegehren zur Enteignung großer Wohnungskonzerne.
Politiker von SPD, Grünen und Linkspartei halten solche Enteignungen für denkbar. Der stellvertretende SPD-Chef Ralf Stegner verteidigte sie als letztes „Notwehrrecht“ des Staates. Stegner sagte unserem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Es gibt teilweise halbkriminelles Verhalten, bei dem die Not der Mieter ausgenutzt wird. In diesen Fällen muss der Staat Handlungsfähigkeit beweisen.“ SPD-Chefin Andrea Nahles hatte zuvor erklärt, Enteignungen dauerten Jahre und schafften keine einzige Wohnung.
Grünen-Chef Robert Habeck dagegen hält Enteignungen prinzipiell für denkbar. Wenn etwa Eigentümer brachliegender Grundstücke weder bauen noch an die Stadt verkaufen wollten, müsse notfalls die Enteignung folgen, sagte er der „Welt am Sonntag“. Auch Linken- Chefin Katja Kipping ist für Enteignungen, wie sie gegenüber dem RND deutlich machte.
Niedersachsens Umwelt- und Bauminister Olaf Lies (SPD) betonte demgegenüber, „der Staat sollte vorsichtig sein, so etwas als seine vorrangige Aufgabe zu betrachten. Es gibt bessere Mittel, um gegen Spekulation und Wucher vorzugehen“, sagte Lies der HAZ. Zudem täten die Länder schon einiges. „Wir bringen eine Wohnraumschutzverordnung auf den Weg, die es Kommunen ermöglicht, etwas gegen Leerstand und Immobilienspekulation zu unternehmen.“ Dass es aber überhaupt zu der Wohnungsnot vor allem in den großen Städten gekommen sei, sei ein Versagen des Staates in der Wohnungsbaupolitik der letzten Jahre. Lies erklärte, dass Bund und Land in Niedersachsen etwa 1,5 Milliarden Euro in den sozialen Wohnungsbau investieren würden, um Boden wettzumachen. „Hier geht es um Neubau, und zwar um bezahlbaren Wohnraum.“
Der Opposition im niedersächsischen Landtag reichen diese Maßnahmen noch nicht aus. „In Niedersachsen fehlen bis zu 500 000 Wohnungen, da muss man sich noch mehr anstrengen“, sagte der wohnungspolitische Sprecher der Grünen, Christian Meyer, der HAZ. Er wies darauf hin, dass das Recht auf Enteignung sogar in der Landesverfassung stehe. Wichtiger wäre im Augenblick aber, dass das Land wieder eine eigene Landesbaugesellschaft gründe, um den Sozialwohnungsbau anzukurbeln.
Rund 55 000 Menschen demonstrierten laut Veranstaltern am Sonnabend in 19 deutschen Städten gegen explodierende Mieten. Die größte Kundgebung fand in Berlin mit 40 000 Teilnehmern statt, in Hannover kamen 150 Menschen.
Volksbegehren in Berlin
Die Initiatoren des Volksbegehrens wollen in Berlin auf Landesebene ein Gesetz, das Enteignungen ermöglicht. Ziel ist die Enteignung gewinnorientierter Immobilienkonzerne mit mehr als 3000 Wohnungen. Etwa ein Dutzend Unternehmen in Berlin mit rund 240 000 Wohnungen wären wohl betroffen – rund 15 Prozent des gesamten Mietwohnungsbestandes. Um das Volksbegehren einleiten zu können, müssen zunächst mindestens 20 000 Unterschriften zusammenkommen.
LEITARTIKEL
Enteignung löst keine Probleme
Für die Berliner Initiative „Spekulationen bekämpfen – Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ liegen die Dinge auf der Hand: Mit Wohnungen dürfe nicht spekuliert werden, weil das Wohnen zu den Grundbedürfnissen gehört. Eine Bedrohung der Unterkunft sei mithin eine Bedrohung der Menschenwürde. Deshalb müssten Großvermieter verstaatlicht werden. Wer versucht, in Großstädten wie Berlin, München oder Köln eine bezahlbare Bleibe zu finden, wird das unterstützen. Hunderte Bewerber bei einer Besichtigung sind keine Seltenheit, sondern die Regel. Wer das Pech hat, eine zu einem Börsenkonzern gehörende Wohnung zu mieten, die komplett vernachlässigt wird, dürfte ebenfalls zustimmen. Was zunächst als Idee linker Spinner abgetan wurde, stößt inzwischen auf immer größere Sympathie in der Bevölkerung. Die Idee einer Enteignung klingt logisch und konsequent. Doch sie greift zu kurz.
„Die Konzerne müssten entschädigt werden – mit Geld, das dann für den sozialen Wohnungsbau fehlt.“
Zwar können sich die Befürworter auf das Grundgesetz berufen. Dort bestimmt Artikel 15 unter dem Titel „Vergesellschaftung“ eindeutig, dass Grund und Boden „in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“ könne. Als Gegenargument kann auch nicht gelten, dass der Artikel noch nie angewendet wurde. Tatsächlich haben ihn die Mütter und Väter des Grundgesetzes ganz bewusst in die Verfassung geschrieben, um die Möglichkeiten des sozialen Rechtsstaates aufzuzeigen.
Doch klar ist: Ein derart rabiater Zugriff auf das vom Grundgesetz besonders geschützte Eigentum bedarf einer umfassenden Begründung. Hier kommt es vor allem auf die Frage an, ob durch eine Verstaatlichung die Missstände tatsächlich behoben werden können. Das muss aber stark bezweifelt werden.
Werden einzelne Großvermieter enteignet, können zwar die betroffenen Mieter entlastet werden. Doch für die Wohnungssuchenden steht keine einzige Bleibe mehr zur Verfügung. Im Gegenteil: Die enteigneten Konzerne müssen schließlich entschädigt werden. Schätzungen gehen davon aus, dass das die Steuerzahler bis zu 36 Milliarden Euro kosten würde – Geld, das dann für den sozialen Wohnungsbau fehlen würde. Mit diesen Mitteln ließen sich Zehntausende Sozialwohnungen bezahlen. Hinzu kommt, dass Enteignungen jegliche Investoren abschrecken würden – auch diejenigen, die Wohnungen nicht als Spekulationsobjekt betrachten. Das dürfte die Lage für die Mieter weiter verschärfen.
Immerhin fördert die Initiative eine breite gesellschaftliche Debatte und zwingt die Politik dazu, endlich nach gangbaren Wegen zu suchen, die Wohnungsmisere zu lösen. Dazu gehört neben dem Bau von Sozialwohnungen eine Mietpreisbremse, die den Namen auch verdient.
KOMMENTAR
Der klare Gegner
Sahra Wagenknecht macht es sich leicht, wenn sie ihrer Partei Distanz zur eigenen Wählerschicht unterstellt. Besonders, da sie sich inzwischen von der Außenlinie der Politik zu Wort meldet. Kaum jemand hat in den vergangenen Jahren den Kurs der Linkspartei so maßgeblich gesteuert wie Wagenknecht selbst. Eine Kritik am Zustand der Partei ist damit zugleich eine Kritik an ihrer eigenen Arbeit. Aber stimmt es überhaupt, dass sich die Linkspartei von den Interessen der kleinen Leute entfernt hat?
Richtig ist, dass Teile der sozialen Unterschicht heute empfänglicher für nationalistisches Gedankengut sind als noch vor einigen Jahren. Wo die Linkspartei früher Volkspartei des Ostens war und mit Sozialpopulismus Unzufriedenheit auffangen konnte, punktet heute die AfD mit noch steileren Thesen und dem gezielten Schüren von Ängsten.
Sahra Wagenknecht hat immer wieder versucht, diese Wähler zurück zur Linkspartei zu ziehen. Sie hat mit Ressentiments gespielt und gerade in der Migrationsfrage die Grenzen zum Rechtspopulismus ausgetestet. Aber ihr ist es damit ergangen wie früher der SPD mit der Linkspartei: Das Original konnte immer noch etwas radikaler sein.
Das Dilemma der Linkspartei ist, dass es im Feld des politischen Populismus insgesamt enger geworden ist. Da ist die AfD am rechten Rand des Spektrums, und in der linken Mitte rückt die SPD stückweise vom Realismus der Regierungsjahre ab. Die Linkspartei muss derart bedrängt ihren Platz neu suchen. Dabei wäre es gar nicht so kompliziert: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sitzen im Bundestag durch die AfD Politiker mit teilweise rechtsextremen Gesinnungen. Einen klareren Gegner kann es für die Linkspartei gar nicht geben.
Quelle: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 08. April 2019