27. März 2017

Der einsame Tod ist keine Ausnahme

Feuerwehren registrieren Anstieg / Ordnungsamt und Kreiswohnbau raten zu Netzwerk

Von Vik­to­ria Hübner

Kreis Hildesheim/Sarstedt. Nie­mand scheint sie ver­misst zu haben – weder Ver­wand­te, Freun­de noch Nach­barn. Erst als ein süß­lich-bei­ßen­der Geruch durch den Flur des Hau­ses an der Gör­lit­zer Stra­ße in Sar­stedt zieht, sich Zei­tun­gen vor der Tür sta­peln, alar­miert ein Mie­ter die Feu­er­wehr. Das war vor einer Woche. Die Kräf­te fin­den eine tote Frau, die einen Monat in ihrer Woh­nung lag. Der trau­ri­ge Fund ist kein Ein­zel­fall. Immer öfter gera­ten Men­schen in Ver­ges­sen­heit – die Fol­ge eines gesell­schaft­li­chen Wan­dels. Woh­nungs­bau­ge­sell­schaf­ten ver­su­chen, mit Netz­wer­ken entgegenzuwirken.

 

Durch­schnitt­lich 200 Mal im Jahr (2016: 209) öff­net die Berufs­feu­er­wehr Hil­des­heim Woh­nungs­tü­ren. Der Alarm im Vor­feld lau­tet „Hilf­lo­se Per­son hin­ter Tür“, berich­tet Wach­ab­tei­lungs­lei­ter Mar­cus Ille­mann. Min­des­tens ein­mal pro Monat erwar­tet die Ret­ter eine Lei­che. „Und es wird mehr.“ Für ihn ist die stei­gen­de Ten­denz Fol­ge einer mehr und mehr anony­men Gesell­schaft. Die Nach­barn rie­fen an, wenn es übel rie­che, der Brief­kas­ten über­quel­le oder die eige­ne Woh­nung betrof­fen sei, etwa wenn Maden aus den Lam­pen­boh­run­gen fie­len. Unter­ein­an­der wür­den sich die Bewoh­ner von Miets­häu­sern immer weni­ger kennen.

 

So berich­tet Ille­mann von einem Rauch­mel­der-Ein­satz. Das Paar, das den Not­ruf gewählt hat­te, leb­te schon zwei Jah­re in dem Haus, konn­te „aber nicht einen Anhalts­punkt geben, wer über ihm wohnt“. Mann, Frau, jung, alt? „Die haben nur mit den Schul­tern gezuckt.“ In Ille­manns Augen man­gelt es an Acht­sam­keit: „Da wird vor die Tür gegan­gen, Han­dy vor der Nase, und nicht nach rechts und nach links geguckt.“ Bei den Todes­fäl­len han­de­le es sich sowohl um älte­re Leu­te, die gestürzt und nicht mehr zum Tele­fon gekom­men sind, als auch um jene, die fried­lich ein­ge­schla­fen sei­en. Beson­ders in Erin­ne­rung ist ihm ein Fall aus der Nord­stadt, wo die Ret­ter einen Mann nach einem hal­ben Jahr ent­deck­ten. Der Leich­nam war so aus­ge­trock­net, dass er mit einer Hand ange­ho­ben wer­den konn­te. Die Ten­denz zu mehr Anony­mi­tät bestä­tigt auch Sebas­ti­an Blaut, stell­ver­tre­ten­der Orts­brand­meis­ter in Sar­stedt. Etwa drei Mal im Monat wer­den die Hel­fer bestellt, um Ein­gän­ge zu öff­nen. 2016 waren drei Fäl­le dabei, in denen die Ver­stor­be­nen län­ger lagen. Ein Extrem im Sep­tem­ber – ein Mann, der neun Mona­te unent­deckt blieb.

 

In der Fol­ge hat auch Bir­git Beu­len, Lei­te­rin des Sar­sted­ter Ord­nungs­amts, damit zu tun. Ihre Behör­de kommt ins Spiel, wenn ein Mensch stirbt und kei­ne Ange­hö­ri­gen hin­ter­lässt. Manch­mal zah­len sich Recher­chen aus und es wer­den Ver­wand­te auf­ge­spürt. Wenn nicht, küm­mert sich das Ord­nungs­amt um die Bei­set­zung. „Bestat­tung von Amts wegen“ heißt es im Büro­kra­ten­deutsch. „2015 hat­ten wir im Schnitt jeden Monat so einen Fall“, berich­tet Beu­len und rät: „Wer allei­ne wohnt, soll­te eine gute Nach­bar­schaft pfle­gen. Der Fami­li­en­ver­band hat sich gelo­ckert, umso wich­ti­ger sind Freun­de und Nachbarn.“

 

„Es gibt keine 100-prozentige Chance, alle zu erreichen.“

Matthias Kaufmann, Geschäftsführer der Kreiswohnbau Hildesheim

 

Für Mat­thi­as Kauf­mann, Geschäfts­füh­rer der Kreis­wohn­bau Hil­des­heim ist ein wesent­li­cher Fak­tor für den ein­sa­men Tod der demo­gra­fi­sche Wan­del: „Die Haus­hal­te wer­den klei­ner, die Kopf­zahl liegt unter zwei.“ Über 4000 Woh­nun­gen im Kreis ver­wal­tet das Unter­neh­men. Pro Jahr erfasst es laut Kauf­mann zwi­schen sechs und acht sol­cher Todes­fäl­le. „Für uns ist eine Zunah­me, dass Men­schen allei­ne ver­ster­ben, erkenn­bar.“ Glück­li­cher­wei­se sei­en Todes­fäl­le im eige­nen Unter­neh­men stets nach kur­zer Zeit her­aus­ge­kom­men. „Eigent­lich“, so Kauf­mann, „ist das, was wir machen kön­nen, vor der Woh­nungs­tür zu Ende.“ Und den­noch wur­de ein Netz­werk auf­ge­baut, um Anony­mi­tät ein­zu­däm­men. Laut Mit­ar­bei­te­rin Hei­ke Mün­nig fängt es damit an, dass Hand­wer­ker ange­wie­sen sind, mit­zu­tei­len, wenn der Ein­druck ent­steht, dass ein Mie­ter sei­nen Haus­halt nicht mehr im Griff hat. Der Brief­trä­ger mel­det, wenn sich die Post sta­pelt. Zudem bie­tet das Team Mie­tern an, ihre Schlüs­sel bei Wohl­fahrts­ver­bän­den in der Nach­bar­schaft zu hin­ter­le­gen. Dane­ben fun­giert Karin Heimann von der städ­ti­schen Senio­ren­be­treu­ung als „Bin­de­glied“ zum Betreu­ungs­ver­ein, Nach­bar­schafts­treffs in Bad Salz­det­furth, Gro­nau und Sar­stedt die­nen dem Miteinander.

 

Die Gemein­nüt­zi­ge Bau­ge­sell­schaft setzt auf den Stadt­teil­treff Dris­pen­stedt mit güns­ti­gem Mit­tags­tisch und Kurs­an­ge­bo­ten, so gbg-Spre­cher Frank Satow. Ein Sozi­al­ar­bei­ter hal­te engen Kon­takt zu Mie­tern, die sozi­al auf­fäl­lig sei­en. „Es gibt kei­ne 100-pro­zen­ti­ge Chan­ce, alle zu errei­chen“, betont Kauf­mann. „Aber wir sehen zu, dass so etwas mög­lichst sel­ten passiert.“

 

Quel­le: Hil­des­hei­mer All­ge­mei­ne Zei­tung, 27. März 2017

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