Der einsame Tod ist keine Ausnahme
Feuerwehren registrieren Anstieg / Ordnungsamt und Kreiswohnbau raten zu Netzwerk
Von Viktoria Hübner
Kreis Hildesheim/Sarstedt. Niemand scheint sie vermisst zu haben – weder Verwandte, Freunde noch Nachbarn. Erst als ein süßlich-beißender Geruch durch den Flur des Hauses an der Görlitzer Straße in Sarstedt zieht, sich Zeitungen vor der Tür stapeln, alarmiert ein Mieter die Feuerwehr. Das war vor einer Woche. Die Kräfte finden eine tote Frau, die einen Monat in ihrer Wohnung lag. Der traurige Fund ist kein Einzelfall. Immer öfter geraten Menschen in Vergessenheit – die Folge eines gesellschaftlichen Wandels. Wohnungsbaugesellschaften versuchen, mit Netzwerken entgegenzuwirken.
Durchschnittlich 200 Mal im Jahr (2016: 209) öffnet die Berufsfeuerwehr Hildesheim Wohnungstüren. Der Alarm im Vorfeld lautet „Hilflose Person hinter Tür“, berichtet Wachabteilungsleiter Marcus Illemann. Mindestens einmal pro Monat erwartet die Retter eine Leiche. „Und es wird mehr.“ Für ihn ist die steigende Tendenz Folge einer mehr und mehr anonymen Gesellschaft. Die Nachbarn riefen an, wenn es übel rieche, der Briefkasten überquelle oder die eigene Wohnung betroffen sei, etwa wenn Maden aus den Lampenbohrungen fielen. Untereinander würden sich die Bewohner von Mietshäusern immer weniger kennen.
So berichtet Illemann von einem Rauchmelder-Einsatz. Das Paar, das den Notruf gewählt hatte, lebte schon zwei Jahre in dem Haus, konnte „aber nicht einen Anhaltspunkt geben, wer über ihm wohnt“. Mann, Frau, jung, alt? „Die haben nur mit den Schultern gezuckt.“ In Illemanns Augen mangelt es an Achtsamkeit: „Da wird vor die Tür gegangen, Handy vor der Nase, und nicht nach rechts und nach links geguckt.“ Bei den Todesfällen handele es sich sowohl um ältere Leute, die gestürzt und nicht mehr zum Telefon gekommen sind, als auch um jene, die friedlich eingeschlafen seien. Besonders in Erinnerung ist ihm ein Fall aus der Nordstadt, wo die Retter einen Mann nach einem halben Jahr entdeckten. Der Leichnam war so ausgetrocknet, dass er mit einer Hand angehoben werden konnte. Die Tendenz zu mehr Anonymität bestätigt auch Sebastian Blaut, stellvertretender Ortsbrandmeister in Sarstedt. Etwa drei Mal im Monat werden die Helfer bestellt, um Eingänge zu öffnen. 2016 waren drei Fälle dabei, in denen die Verstorbenen länger lagen. Ein Extrem im September – ein Mann, der neun Monate unentdeckt blieb.
In der Folge hat auch Birgit Beulen, Leiterin des Sarstedter Ordnungsamts, damit zu tun. Ihre Behörde kommt ins Spiel, wenn ein Mensch stirbt und keine Angehörigen hinterlässt. Manchmal zahlen sich Recherchen aus und es werden Verwandte aufgespürt. Wenn nicht, kümmert sich das Ordnungsamt um die Beisetzung. „Bestattung von Amts wegen“ heißt es im Bürokratendeutsch. „2015 hatten wir im Schnitt jeden Monat so einen Fall“, berichtet Beulen und rät: „Wer alleine wohnt, sollte eine gute Nachbarschaft pflegen. Der Familienverband hat sich gelockert, umso wichtiger sind Freunde und Nachbarn.“
„Es gibt keine 100-prozentige Chance, alle zu erreichen.“
Matthias Kaufmann, Geschäftsführer der Kreiswohnbau Hildesheim
Für Matthias Kaufmann, Geschäftsführer der Kreiswohnbau Hildesheim ist ein wesentlicher Faktor für den einsamen Tod der demografische Wandel: „Die Haushalte werden kleiner, die Kopfzahl liegt unter zwei.“ Über 4000 Wohnungen im Kreis verwaltet das Unternehmen. Pro Jahr erfasst es laut Kaufmann zwischen sechs und acht solcher Todesfälle. „Für uns ist eine Zunahme, dass Menschen alleine versterben, erkennbar.“ Glücklicherweise seien Todesfälle im eigenen Unternehmen stets nach kurzer Zeit herausgekommen. „Eigentlich“, so Kaufmann, „ist das, was wir machen können, vor der Wohnungstür zu Ende.“ Und dennoch wurde ein Netzwerk aufgebaut, um Anonymität einzudämmen. Laut Mitarbeiterin Heike Münnig fängt es damit an, dass Handwerker angewiesen sind, mitzuteilen, wenn der Eindruck entsteht, dass ein Mieter seinen Haushalt nicht mehr im Griff hat. Der Briefträger meldet, wenn sich die Post stapelt. Zudem bietet das Team Mietern an, ihre Schlüssel bei Wohlfahrtsverbänden in der Nachbarschaft zu hinterlegen. Daneben fungiert Karin Heimann von der städtischen Seniorenbetreuung als „Bindeglied“ zum Betreuungsverein, Nachbarschaftstreffs in Bad Salzdetfurth, Gronau und Sarstedt dienen dem Miteinander.
Die Gemeinnützige Baugesellschaft setzt auf den Stadtteiltreff Drispenstedt mit günstigem Mittagstisch und Kursangeboten, so gbg-Sprecher Frank Satow. Ein Sozialarbeiter halte engen Kontakt zu Mietern, die sozial auffällig seien. „Es gibt keine 100-prozentige Chance, alle zu erreichen“, betont Kaufmann. „Aber wir sehen zu, dass so etwas möglichst selten passiert.“
Quelle: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 27. März 2017