Sozialforscher blicken in die Zukunft: Wie geht es weiter – zum Beispiel in Giesen?
Wohnen ist das Zauberwort für die Entwicklung von Kommunen. Das Pestel-Institut hat nun die Zukunftschancen für die Gemeinden im Landkreis untersucht.
Von Norbert Mierzowsky
Mietpreise explodieren in Großstädten, vor allem dort herrscht außerdem große Wohnungsnot. Doch nicht nur Hamburg, Berlin oder München sind die bundesdeutschen Sorgenkinder. Probleme gibt es auch in andern Regionen. Wie im Landkreis Hildesheim und seinen Städten und Gemeinden. Dort geht es um die Zukunftsfähigkeit vor Ort, die demografische Entwicklung und damit auch die Hausaufgaben für die Kommunalpolitik. Die Warnsignale für eine vorausschauende Sichtweise gibt es schon lange, vor allem das Pestel-Institut aus Hannover hat die hiesige Region statistisch schon lange im Blick. Es warnte zum Beispiel 2011 vor einer „grauen Wohnungsnot“ im Landkreis Hildesheim: Im Alter in der eigenen Wohnung zu bleiben, werde für künftige Rentner immer schwerer. 2016 hat der Landkreis nun das Pestel-Institut mit Sitz in Hannover damit beauftragt, in den einzelnen Gemeinden und Städten den Bedarf an sozialem Wohnraum zu untersuchen. Daraus sind nun umfangreiche Studien geworden, die die Entwicklung seit 1995 in den Blick genommen haben. Am 14. November werden die ersten Ergebnisse für den Landkreis Hildesheim im Kreisausschuss für Bau- und Kreisentwicklung vorgestellt. Eine Uhrzeit steht noch nicht fest. „Wir wollen wissen, wie es im Landkreis mit der Wohnraumversorgung aussieht, wo noch Bedarf herrscht“, sagt Kreis-Baudezernent Eckhard Speer als Auftraggeber der Studie. Er hat dabei den gesamten Landkreis im Blick, auch wie und ob sich im Vergleich von Süd- und Nordgemeinden ein Gefälle abzeichnet. Dass viele Gemeinden im Südkreis vor allem mit dem Wohlfühlfaktor punkten können, hat zuletzt die kleine Ortschaft Everode zeigen können, die als Sieger aus dem Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ hervorgegangen ist. Doch es gelten auch harte wirtschaftliche Fakten. Deswegen hat die Entwicklung in Hannover auch Auswirkungen auf die Ausdehnung des sogenannten Speckgürtels in Richtung Sarstedt und mittlerweile auch für Gemeinden wie Algermissen und Giesen. In den nächsten Wochen werden die Ergebnisse für die einzelnen Gemeinden vorliegen und in den Ausschüssen und Fraktionen beraten. Giesen hat bereits damit begonnen. In der jüngsten Finanzausschuss- Sitzung war die Studie zur Bevölkerung und zum Wohnungsmarkt Thema auf der Tagesordnung. Doch die Debatte blieb zunächst an der Oberfläche. Einzig die SPD-Abgeordneten Thomas Raue und Bernd Westphal sowie Lars Hampel von den Grünen mahnten an, die Impulse für eine Debatte aufzugreifen. Raue regte unter anderem an, die Zuwandererpolitik in den Fokus zu rücken. Denn das ist eines der Ergebnisse der Studie für Giesen: „Per Saldo erzielte die Gemeinde Giesen seit 1989 gegenüber der Stadt Hildesheim einen Wanderungsgewinn von gut 1030 Personen.“
Ähnlich wie bei der Wählerwanderung gibt es auch Statistiken darüber, wie sich Zu- und Fortzüge abbilden. Der Vorsprung von knapp über 1000 resultiert aus Zuzügen aus Hildesheim von knapp 5000 Menschen in diesem Zeitraum. Das wird unter anderem auch an dem Faktor Arbeitsplätze liegen. Auch hier punktet Giesen: „Seit 1995 ist die Zahl der Arbeitsplätze um 30 Prozent gestiegen.“ Im Vergleich dazu der Kreis Hildesheim mit insgesamt einem Minus von 0,9 Prozent oder das Land Niedersachsen mit immerhin einem Plus von 17,7 Prozent.
Sollte es in naher oder mittlerer Zukunft außerdem dazu kommen, dass das ruhende Kalibergwerk wieder seinen Betrieb aufnimmt, dürfte sich Bürgermeister Andreas Lücke die Hände reiben: Das verspricht mit Sicherheit einen kräftigen Schub auch bei der Einwohnerzahl. Und damit auch bei den Einnahmen aus der Einkommenssteuer. Abgesehen von den sprudelnden Gewerbesteuereinnahmen. Ein Paket, dass die Gemeinde in die Lage versetzen dürfte, kräftig in die Infrastruktur zu investieren. Und so lautet bereits jetzt eine Empfehlung aus der Studie: „Die Arbeitsplätze in der Gemeinde Giesen sind aktuell zu 79 Prozent von Einpendlern besetzt.“ Das sei eine große Chance, die Einpendler für den Wohnort Giesen zu gewinnen.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Schaut man auf die Grafik mit der Bevölkerungsentwicklung, schlägt die Kurve immer wieder kräftig nach oben, aber auch nach unten aus. Auffällig seien aber die Wanderungsgewinne aus den Jahren 1995 bis 2000 aus der Stadt Hildesheim. Doch die seien danach stark abgeflaut. Ein Fazit der Studie lautet, dass kleinere Wanderungsbewegungen vor allem an der Verbesserung der Wohnsituation liegen, zum Beispiel an neuen Baugebieten. Großräumige Wanderungen werden eher durch Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt hervorgerufen. Insgesamt sieht die Bilanz der Bevölkerungsentwicklung für die Gemeinde aus demografischer Sicht eher düster aus: Das Durchschnittsalter ist seit 1995 – trotz der Wanderungsgewinne – von 40 auf knapp 47 Jahre gestiegen. Mit anderen Worten: Giesen altert. Es dominieren eher ältere Erwerbstätige im Alter von 40 bis 65 Jahren, also der geburtenstarken Jahrgänge. Deren Kinder ziehen eher in Metropolen um. Wohnungen werden dadurch nicht frei, die Eltern bleiben in ihren Häusern. Und damit häufig mit dem Problem alleine, die Energiesanierung zu betreiben. Denn 63 Prozent des Wohnbestandes ist vor 1978 errichtet worden, daher herrscht hier energietechnisch noch kräftiger Nachholbedarf.
Der Bevölkerungsschub aus der sogenannten Suburbanisierung hat stark nachgelassen, das heißt der Zuwanderungsgewinn aus Hildesheim und Hannover gerät ins Stocken. Wer sich für ein Leben auf dem Lande entscheidet, und das betrifft vor allem auch junge Familien, hat häufig mehrere Faktoren im Blick: Wie sieht die Infrastruktur mit Kindergärten und Schulen aus? Wie ist es mit dem Wertverlust von Immobilien auf dem Land? Junge Erwerbstätige haben heutzutage eine höhere Mobilität auf dem Arbeitsmarkt und neigen daher nicht dazu, sich regional mit einer eigenen Immobilie zu binden. „Der Kompromiss der Wohnstandortsuche junger Familien verschiebt sich in Richtung Mietwohnung in der Stadt“, lautet ein Fazit der Studie.
Die endet mit drei Szenarien für Giesen. Bestenfalls sinkt die Einwohnerzahl auf 9400, schlechtestenfalls auf 8300 Menschen. Während damit in jedem der drei Szenarien die Altersgruppe der Erwerbstätigen schwindet, steigt der Anteil der Senioren steil an. Ein Ergebnis, dass das Pestel-Institut bereits 2011 vorausgesagt hatte. Es empfiehlt der Gemeinde, unmittelbar bebaubare Grundstücke vorzuhalten, um Zuwanderer zu binden. Und es sollten Projekte für barrierefreies Wohnen gefördert werden, hierzu bedarf es allerdings in der Regel externe Investoren. Insgesamt gilt für die Kommunalpolitik: Es müssen wohnpolitische Ziele gesetzt und die entsprechenden Bedingungen geschaffen werden.
IN ZAHLEN
9794
Einwohner hat die Gemeinde Giesen derzeit, ein Viertel davon ist über 60 Jahre alt. Die Zahl wird sich laut Pestel-Studie bis 2035 verringern – im schlimmsten Fall auf 8300.
80
Jahre ist das Alter, in dem durchschnittlich betrachtet die Pflegebedürftigkeit des Menschen in Deutschland stark ansteigt. In Giesen wird der Anteil der Über-80-Jährigen im Jahr 2035 voraussichtlich bei knapp 33 Prozent liegen.
560
Zweifamilienhäuser wurden in Giesen gezählt, das heißt, dass 12 Prozent des Wohnungsbestandes auf eine zweite Wohnung im Haus entfallen. Nur: Viele Eigentümer haben kein Interesse an einer Vermietung.
„Seit 1995 ist die Zahl der Arbeitsplätze um 30 Prozent gestiegen.“
Pestel-Studie Auswertung zur Entwicklung der Gemeinde, Stand August 2017
Energiesparen als Aufgabe
Knapp 43 Prozent der Häuser in Giesen wurden in den Jahren zwischen 1949 und 1978 errichtet, in einer Zeit, in der Energiesparmaßnahmen so gut wie keine Rolle spielten. 19 Prozent wurden zwischen 1991 und 2000 gebaut, das ist mehr als im Landesschnitt. Der liegt bei 15,6 Prozent. Trotzdem gibt es in Giesen noch ein erhebliches Einsparpotenzial beim Thema Energiekosten.
Das Pestel-Institut und sein Gründer
Der gebürtige Hildesheimer Eduard Pestel (1914) ist Gründer des nach seinem Tod 1988 umbenannten Pestel-Instituts für Systemforschung. Gegründet wurde es nach einem Auftrag der Bundesregierung für ein computergestütztes Modell für die Zukunft Deutschlands. Pestel war Gründungsmitglied des Club of Rome, das unter anderem mit der Veröffentlichung des Datenmaterials zu den „Grenzen des Wachstums“ 1972 weltweites Aufsehen erregt hat und als ein Vorläufer der ökologischen Bewegung gilt. Eduard Pestel hatte als Jugendlicher erst Maurer gelernt und hat dann in Hildesheim die Ingenieurschule besucht und in Hannover an der TH Mechanik studiert, wo er nach dem Zweiten Weltkrieg eine Professur erhielt. Pestel machte schnell Karriere, unter anderem im NATO-Wissenschaftsausschuss, im Kuratorium der Stiftung Volkswagenwerk oder in der Fraunhofer-Gesellschaft für angewandte Forschung. Von 1977 bis 1981 war er niedersächsischer Minister für Wissenschaft und Kunst. Erst 2016 wurde sein politisches Engagement im Faschismus bekannt, er war Mitglied der SA und des NS-Studentenbundes. In den letzten drei Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs war er als Ingenieur in Japan tätig. Das Pestel-Institut Hannover hat sich auf wirtschaftliche Analysen für Kommunen und Landkreise spezialisiert, um Zukunftsszenarien darzustellen, besonders für den Bereich der Wohnungsmärkte.
Quelle: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 06. November 2017